Residuum (Funktionentheorie)

In der Funktionentheorie ist das Residuum einer komplexwertigen Funktion ein Hilfsmittel zur Berechnung von komplexen Kurvenintegralen mit Hilfe des Residuensatzes.

Definition

Komplexe Gebiete

Sei D C {\displaystyle D\subseteq \mathbb {C} } ein Gebiet, D f {\displaystyle D_{f}} isoliert in D {\displaystyle D} und f : D D f C {\displaystyle f\colon D\setminus D_{f}\to \mathbb {C} } holomorph. Dann existiert zu jedem Punkt a D f {\displaystyle a\in D_{f}} eine punktierte Umgebung U := U r ( a ) { a } D {\displaystyle U:=U_{r}(a)\setminus \{a\}\subset D} , die relativ kompakt in D {\displaystyle D} liegt, mit f | U {\displaystyle f|_{U}} holomorph.

In diesem Fall besitzt f {\displaystyle f} auf U {\displaystyle U} eine Laurententwicklung f | U ( z ) = n = c n ( z a ) n {\displaystyle \textstyle f|_{U}(z)=\sum \limits _{n=-\infty }^{\infty }c_{n}(z-a)^{n}} . Dann erhält man das Residuum von f {\displaystyle f} in a {\displaystyle a} als Koeffizienten der Laurent-Reihe

Res a ( f ) := c 1 . {\displaystyle \operatorname {Res} _{a}(f):=c_{-1}.}

Wenn a {\displaystyle a} ein Pol erster Ordnung ist, dann ist

Res a ( f ) = lim z a ( z a ) f ( z ) . {\displaystyle \operatorname {Res} _{a}(f)=\lim _{z\to a}(z-a)f(z).}

Wenn a {\displaystyle a} ein Pol n-ter Ordnung ist, dann ist

Res a ( f ) = 1 ( n 1 ) ! lim z a d n 1 d z n 1 ( ( z a ) n f ( z ) ) . {\displaystyle \operatorname {Res} _{a}(f)={\frac {1}{(n-1)!}}\lim _{z\to a}{\frac {d^{n-1}}{dz^{n-1}}}\left((z-a)^{n}f(z)\right).}

Aus dem Residuensatz folgt, dass man das Residuum als

Res a ( f ) = 1 2 π i U f ( z ) d z {\displaystyle \operatorname {Res} _{a}(f)={\frac {1}{2\pi \mathrm {i} }}\oint \limits _{\partial U}f(z)dz}

berechnen kann.

Riemannsche Zahlenkugel

Die obige Definition kann man auch auf die Riemannsche Zahlenkugel P 1 = C { } {\displaystyle \mathbb {P} _{1}=\mathbb {C} \cup \{\infty \}} erweitern. Sei D f {\displaystyle D_{f}} wieder eine diskrete Menge in P 1 {\displaystyle \mathbb {P} _{1}} und f : P 1 D f C {\displaystyle f\colon \mathbb {P} _{1}\setminus D_{f}\to \mathbb {C} } eine holomorphe Funktion.

Dann ist für alle a D f {\displaystyle a\in D_{f}} mit a {\displaystyle a\neq \infty } das Residuum ebenfalls durch die obige Definition erklärt.

Für a = D f {\displaystyle a=\infty \in D_{f}} setzt man

Res ( f ) = Res 0 ( 1 z 2 f ( 1 z ) ) . {\displaystyle \operatorname {Res} _{\infty }(f)=-\operatorname {Res} _{0}\left({\frac {1}{z^{2}}}f\left({\frac {1}{z}}\right)\right).}

Wenn

lim | z | f ( z ) = 0 , {\displaystyle \lim _{|z|\to \infty }f(z)=0,}

ist, dann kann man das Residuum im Unendlichen durch

Res ( f ) = lim | z | z f ( z ) {\displaystyle \operatorname {Res} _{\infty }(f)=-\lim _{|z|\to \infty }z\cdot f(z)}

berechnen. Wenn hingegen

lim | z | f ( z ) = c 0 , {\displaystyle \lim _{|z|\to \infty }f(z)=c\neq 0,}

ist, dann errechnet sich das Residuum in Unendlich zu

Res ( f ) = lim | z | z 2 f ( z ) . {\displaystyle \operatorname {Res} _{\infty }(f)=\lim _{|z|\to \infty }z^{2}\cdot f'(z).}

Eigenschaften und Anmerkungen

  • Sei D C {\displaystyle D\subset \mathbb {C} } ein Gebiet und f : D C {\displaystyle f\colon D\to \mathbb {C} } eine holomorphe Funktion in a {\displaystyle a} . Dann kann der Cauchysche Integralsatz angewendet werden, woraus folgt, dass das Residuum von f {\displaystyle f} in a {\displaystyle a} null ist.
  • An der Integraldarstellung erkennt man, dass man auch vom Residuum der Differentialform f ( z ) d z {\displaystyle f(z)\mathrm {d} z} sprechen kann.
  • Es gilt der Residuensatz.
  • Für rationale Funktionen f : C ^ C ^ {\displaystyle f:{\hat {\mathbb {C} }}\to {\hat {\mathbb {C} }}} gilt die sogenannte Geschlossenheitsrelation: p ( f ) Res p ( f ) = 0 {\displaystyle \sum _{p(f)}\operatorname {Res} _{p}(f)=0} . Dabei ist p ( f ) {\displaystyle p(f)} die Menge aller Pole von f {\displaystyle f} und C ^ = C { } {\displaystyle {\hat {\mathbb {C} }}=\mathbb {C} \cup \{\infty \}} die Riemannsche Zahlenkugel.

Praktische Berechnung

Folgende Regeln können zur Berechnung von Residuen von komplexwertigen Funktionen f , g {\displaystyle f,g} im Punkt a C {\displaystyle a\in \mathbb {C} } in der Praxis verwendet werden:

  • Das Residuum ist C {\displaystyle \mathbb {C} } -linear, d. h. für λ , μ C {\displaystyle \lambda ,\mu \in \mathbb {C} } gilt: Res a ( λ f + μ g ) = λ Res a f + μ Res a g {\displaystyle \operatorname {Res} _{a}\left(\lambda f+\mu g\right)=\lambda \operatorname {Res} _{a}f+\mu \operatorname {Res} _{a}g}
  • Hat f {\displaystyle f} in a {\displaystyle a} eine Polstelle 1. Ordnung, gilt: Res a f = lim z a ( z a ) f ( z ) {\displaystyle \textstyle \operatorname {Res} _{a}f=\lim _{z\rightarrow a}(z-a)f(z)}
  • Hat f {\displaystyle f} in a {\displaystyle a} eine Polstelle 1. Ordnung und ist g {\displaystyle g} in a {\displaystyle a} holomorph, gilt: Res a g f = g ( a ) Res a f {\displaystyle \operatorname {Res} _{a}gf=g(a)\operatorname {Res} _{a}f}
  • Hat f {\displaystyle f} in a {\displaystyle a} eine Nullstelle 1. Ordnung, gilt: Res a 1 f = 1 f ( a ) {\displaystyle \operatorname {Res} _{a}{\tfrac {1}{f}}={\tfrac {1}{f'(a)}}}
  • Hat f {\displaystyle f} in a {\displaystyle a} eine Nullstelle 1. Ordnung und ist g {\displaystyle g} in a {\displaystyle a} holomorph, gilt: Res a g f = g ( a ) f ( a ) {\displaystyle \operatorname {Res} _{a}{\tfrac {g}{f}}={\tfrac {g(a)}{f'(a)}}}
  • Hat f {\displaystyle f} in a {\displaystyle a} eine Polstelle n {\displaystyle n} -ter Ordnung, gilt: Res a f = 1 ( n 1 ) ! lim z a n 1 z n 1 [ ( z a ) n f ( z ) ] {\displaystyle \textstyle \operatorname {Res} _{a}f={\tfrac {1}{\left(n-1\right)!}}\lim _{z\rightarrow a}{\frac {\partial ^{n-1}}{\partial z^{n-1}}}[(z-a)^{n}f(z)]}
  • Hat f {\displaystyle f} in a {\displaystyle a} eine Nullstelle n {\displaystyle n} -ter Ordnung, gilt: Res a f f = n {\displaystyle \operatorname {Res} _{a}{\tfrac {f'}{f}}=n} .
  • Hat f {\displaystyle f} in a {\displaystyle a} eine Nullstelle n {\displaystyle n} -ter Ordnung und ist g in a {\displaystyle a} holomorph, gilt: Res a g f f = g ( a ) n {\displaystyle \operatorname {Res} _{a}g{\tfrac {f'}{f}}=g(a)n} .
  • Hat f {\displaystyle f} in a {\displaystyle a} eine Polstelle n {\displaystyle n} -ter Ordnung, gilt: Res a f f = n {\displaystyle \operatorname {Res} _{a}{\tfrac {f'}{f}}=-n} .
  • Hat f {\displaystyle f} in a {\displaystyle a} eine Polstelle n {\displaystyle n} -ter Ordnung und ist g in a {\displaystyle a} holomorph, gilt: Res a g f f = g ( a ) n {\displaystyle \operatorname {Res} _{a}g{\tfrac {f'}{f}}=-g(a)n} .
  • Sei f {\displaystyle f} in einem zur reellen Achse symmetrischen Gebiet G {\displaystyle G} , d. h. z G z ¯ G {\displaystyle z\in G\Rightarrow {\overline {z}}\in G} , holomorph bis auf isolierte Singularitäten. Weiterhin gelte f ( G R ) R {\displaystyle f(G\cap \mathbb {R} )\subset \mathbb {R} } . Dies ist nach dem schwarzschen Spiegelungsprinzip und dem Identitätssatz äquivalent zu f ( z ¯ ) = f ( z ) ¯ {\displaystyle f({\overline {z}})={\overline {f(z)}}} . Es gilt sodann Res a ¯ f = Res a f ¯ {\displaystyle \operatorname {Res} _{\overline {a}}f={\overline {\operatorname {Res} _{a}f}}} .[1]
  • Ist das Residuum am Punkt {\displaystyle \infty } zu berechnen, so gilt Res f = Res 0 ( 1 z 2 f ( 1 z ) ) {\displaystyle \operatorname {Res} _{\infty }f=\operatorname {Res} _{0}\left(-{\tfrac {1}{z^{2}}}f({\tfrac {1}{z}})\right)} . Denn mit w = 1 z {\displaystyle w={\tfrac {1}{z}}} gilt f ( w ) d w = f ( 1 z ) d 1 z = 1 z 2 f ( 1 z ) d z {\displaystyle f(w)\mathrm {d} w=f({\tfrac {1}{z}})\mathrm {d} {\tfrac {1}{z}}=-{\tfrac {1}{z^{2}}}f({\tfrac {1}{z}})\mathrm {d} z}

Die Regeln über die logarithmische Ableitung f f {\displaystyle {\tfrac {f'}{f}}} sind in Verbindung mit dem Residuensatz auch von theoretischem Interesse.

Beispiele

  • Wie bereits erwähnt, ist Res a f = 0 {\displaystyle \operatorname {Res} _{a}f=0} , wenn f {\displaystyle f} auf einer offenen Umgebung von a {\displaystyle a} holomorph ist.
  • Ist f ( z ) = 1 z {\displaystyle f(z)={\tfrac {1}{z}}} , so hat f {\displaystyle f} in 0 {\displaystyle 0} einen Pol 1. Ordnung, und es ist Res 0 f = 1 {\displaystyle \operatorname {Res} _{0}f=1} .
  • Res 1 z z 2 1 = 1 2 {\displaystyle \operatorname {Res} _{1}{\tfrac {z}{z^{2}-1}}={\tfrac {1}{2}}} , wie man sofort mit der Linearität und der Regel von der logarithmischen Ableitung sieht, denn z z 2 1 {\displaystyle z\mapsto z^{2}-1} hat in 1 {\displaystyle 1} eine Nullstelle 1. Ordnung.
  • Die fortgesetzte Gammafunktion hat in n {\displaystyle -n} für n N 0 {\displaystyle n\in \mathbb {N} _{0}} Pole 1. Ordnung, und das Residuum dort ist Res n Γ = ( 1 ) n n ! {\displaystyle \operatorname {Res} _{-n}\Gamma ={\tfrac {(-1)^{n}}{n!}}} .

Algebraische Sichtweise

Es seien K {\displaystyle K} ein Körper und X {\displaystyle X} eine zusammenhängende reguläre eigentliche Kurve über K {\displaystyle K} . Dann gibt es zu jedem abgeschlossenen Punkt x X {\displaystyle x\in X} eine kanonische Abbildung

res x : Ω K ( X ) / K K , {\displaystyle \operatorname {res} _{x}\colon \Omega _{K(X)/K}\to K,}

die jeder meromorphen Differentialform ihr Residuum in x {\displaystyle x} zuordnet.

Ist x {\displaystyle x} ein K {\displaystyle K} -rationaler Punkt und t {\displaystyle t} eine lokale Uniformisierende, so kann die Residuenabbildung wie folgt explizit angegeben werden: Ist ω {\displaystyle \omega } eine meromorphe Differentialform und ω = f d t {\displaystyle \omega =f\,\mathrm {d} t} eine lokale Darstellung, und ist

f = k = N a k t k {\displaystyle f=\sum _{k=-N}^{\infty }a_{k}t^{k}}

die Laurentreihe von f {\displaystyle f} , so gilt

res x ω = a 1 . {\displaystyle \operatorname {res} _{x}\omega =a_{-1}.}

Insbesondere stimmt das algebraische Residuum im Fall K = C {\displaystyle K=\mathbb {C} } mit dem funktionentheoretischen überein.

Das Analogon des Residuensatzes ist richtig: Für jede meromorphe Differentialform ω {\displaystyle \omega } ist die Summe der Residuen null:

x X res x ω = 0. {\displaystyle \sum _{x\in X}\operatorname {res} _{x}\omega =0.}

Quellen

  • Eberhard Freitag, Rolf Busam: Funktionentheorie 1. 3. Auflage. Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2000.
  • A. P. Yuzhakov: Residue of an analytic function. In: Michiel Hazewinkel (Hrsg.): Encyclopedia of Mathematics. Springer-Verlag und EMS Press, Berlin 2002, ISBN 1-55608-010-7 (englisch, encyclopediaofmath.org). 
  • John Tate, Residues of differentials on curves. Annales scientifiques de l'É.N.S. 4e série, tome 1, no 1 (1968), S. 149–159. DJVU/PDF
Eine Konstruktion der algebraischen Residuenabbildung.

Einzelnachweise

  1. Steffen Timmann: Repetitorium der Funktionentheorie. Binomi Verlag, 1998, ISBN 978-3-923923-56-4, S. 120.